Soylent – Essen für die alltägliche Dystopie

Soylent enthält alle Nährstoffe, die der menschliche Körper braucht, ist billig, und einfach herzustellen. Ich habe Ernährung sehr lange als Problem betrachtet. Dieses Problem ist endlich gelöst.

Eine Schüssel mit Soylent, Zutaten stehen dahinter.

Seit ein paar Monaten ernähre ich mich jetzt zu großen Teilen von einem selbst zusammengemischten Pulver namens Soylent. Soylent enthält alle Nährstoffe, die der menschliche Körper braucht, und besteht unter anderem aus synthetischen Proteinen und Vitaminen.

Es ist kein Produkt des Zufalls, und niemand musste dafür sterben. Eigentlich ist Treibstoff ein besserer Begriff als Essen. Die Hälfte meiner Freunde hält mich für verrückt, die andere Hälfte für durchgeknallt.

Ich habe schon einige Konventionen gebrochen, die unserer Gesellschaft so wichtig sind, und das ist an sich nichts besonderes, aber mit Essen ist es etwas anderes: Essen ist heilig, mit seiner rustikalen Notwendigkeit. Essen ist unser fundamentalste Standpfeiler, unverzichtbarer noch als Kleidung oder Wohnung.

Ich bin ein Stadtkind, und ich bin ziemlich froh darüber. Die Natur ist mir suspekt. Die einen fressen die anderen, und die leben ihrerseits von Leichen und Scheiße. Ab und zu kommt eine Katastrophe und wirft diese barbarischen Zustände durcheinander, ganze Arten sterben aus oder entstehen neu.

Unvorstellbar, wie so etwas wie die Menschheit daraus entstehen konnte. Kein Wunder, dass sich Vernunft, Planung, und Ordnung in all diesem blinden Durcheinander durchsetzen konnte. Schade, aber kein Wunder.

Rob Rhinehart, ein Programmierer aus den USA, hat Soylent erfunden. Er wunderte sich, warum Menschen trotz Vernunft und höherer Entwicklung und Wissenschaft immer noch Blätter und Tiere essen. Statt wie die meisten Leute einfach zu essen, was ihnen so unterkommt, Unmengen an unnötigem Geld auszugeben und irgendwann an Diabetes oder Fettleibigkeit zu sterben, beschloss er, das Problem Ernährung mit einem vernünftigen Ansatz anzugehen.

Was braucht der Mensch, um gut zu funktionieren? Was ist gut für uns, was ist total überflüssig? Was ist die perfekte Nahrung?

Das Leben mit Soylent

Acht- oder neunmal am Tag kippe ich ein paar Löffel Pulver in ein Glas, füge etwas Öl und Wasser hinzu und trinke das Resultat. Die praktischen Vorteile lassen sich knapp an neun Fingern abzählen:

  • Soylent ist ewig haltbar.
  • Ich muss mich nicht an Frühstück, Mittag, Abendessen halten.
  • “Kochen” dauert nur 10 Minuten am Tag.
  • Kein Nachmittagstief, weil ich mich seltener überfresse.
  • Ich muss so gut wie nie abspülen.
  • Ich verbrauche kaum Wasser.
  • Ich verursache keinen Biomüll und keine Fliegen.
  • Ich kann immer das gleiche einkaufen und aufbewahren, nichts verdirbt.
  • Ich brauche weder Kühlschrank noch Herd noch Ofen – in meiner nächsten Wohnung werde ich mir bestimmt keine Küche kaufen.

Soylent schmeckt nicht besonders besonders. Eigentlich ein bisschen wie Kuchenteig. Stellt euch vor, ihr würdet vier Tage lang Gummibärchen essen – ihr hättet relativ schnell die Schnauze voll davon. Aber wenn man tagelang von etwas nicht besonders leckerem leben muss, gewöhnt man sich daran, und es beginnt sogar zu schmecken. Wann hast du das erste Bier getrunken, das dir geschmeckt hat?

Die wenigsten, die „auf Soylent umsteigen“, essen nichts normales mehr. Der soziale Aspekt von Essen beispielsweise kommt bei Soylent viel zu kurz – Essen ist ja kein Akt mehr, der Vorbereitung, zusammensitzen und aufräumen erfordert. Aber ein, zwei mal die Woche mit Freund/innen zu kochen macht Spaß und schmeckt doppelt so gut – und noch viel besser, wenn man den Rest der Woche nur ein neutral schmeckendes Pulver gegessen hat.

Ab- oder zunehmen ist mit Soylent auch extrem einfach – man muss einfach mehr oder weniger essen. Das fällt einem auch nicht weiter schwer; wenn man sogar ungaublichen Appetit auf Soylent hat, wird er schon gerechtfertigt sein. Man isst einfach mehr oder weniger.

Ich persönlich habe lange versucht, mich ausgewogen zu ernähren, auch wegen Magenproblemen und weil ich allgemein unnatürlich dünn bin. Ich habe lange überlegt, was ich falsch mache, mal vegetarisch, mal nicht, mal vegan, mal nicht. Dieser neue Ansatz ist jedenfalls ziemlich erfrischend, und da mein Magen erheblich weniger zu verdauen hat und ich perfekt ausgewogen ernährt bin. Ich habe Ernährung sehr lange als Problem betrachtet. Dieses Problem ist endlich gelöst.

Wie stellt man Soylent her?

Soylent herstellen ist einfach und geht schnell. Weit schneller, als etwas richtiges zu kochen. Das Rezept, das ich benutze, hat ein paar Vitamine zu wenig; aber dafür kostet es nur 1,33€ am Tag, ist bis auf ein Vitamin vegan, und besteht aus nur ein paar wenigen, fast überall erhältlichen Zutaten. Ihr findet es auf dieser Website – man kann es da sogar noch forken und optimieren.

Eine Schüssel, Mörser & Stößel, eine Waage, und einige Zutaten.
Alles, was man für Soylent braucht, auf einen Blick.

Für eine Tagesdosis brauchst du eine Waage, eine Schüssel, Mörser & Stößel, und die folgenden Zutaten:

Ich fange in der Regel damit an, die Vitaminpillen kleinzumörsern. Das geht im Notfall auch mit einem Löffel, aber mit so etwas hier ist es schon praktischer:

Ein Mörser und Stößel, in dem sich Pillen befinden.
Die Vitaminpillen müssen sorgfältig zerstoßen werden. Oder eben unsorgfältig.

Danach können wir die anderen Zutaten dazuschmeißen, bis auf das Sonnenblumenöl. Das kommt erst dazu, wenn ihr euch eine Portion anrührt. Alles möglichst genau abwiegen, es ist wirklich kein Hexenwerk.

Eine Schüssel mit ganz vielen Zutaten darin.
Achtet nicht auf die Waage, sie ist leider kaputt. Wenn ihr eine funktionierende Waage habt, ich nehme sie gerne 😉

Am Ende mischt man das noch durcheinander und füllt das weiße Pulver in einen durchsichtigen Zipper-Beutel. (Versucht gar nicht erst, das Zeug durch eine Flughafenkontrolle zu kriegen.)

Ein Beutel voll mit weißem Pulver.
Das fertige Soylent, abgepackt und mitnahmebereit.

Ihr wollt probieren? Ganz einfach. Tut euch bis zu drei gehäufte Esslöffel in ein kleines Glas, kippt einen Schwung Sonnenblumenöl drüber und rührt es mit Wasser zu einer dickflüssigen Brühe an; ein bisschen so wie ihr Müsli essen würdet.

Wenns mal was besonderes sein soll, nehmt einfach Tee statt Wasser zum anrühren. Der Unterschied ist riesig… Chai-Tee ist großartig, andere Sorten sind auch gut.

Sieht nach wenig aus, macht aber echt satt.

Mehr als dreieinhalb Löffel würde ich auch bei größtem Hunger nicht auf einmal essen – nicht dass das giftig wäre oder so, aber man überfrisst sich an Soylent sehr schnell. Die Nährstoffe, die ihr normal in einer ganzen Mahlzeit habt, sind hier sehr komprimiert; ihr esst viel weniger nutzloses Material als bei einem Salat zum Beispiel.

Als ich das erste Mal Soylent gegessen habe, hatte ich beinahe Angst davor. Es kam mir wagemutig vor, ungetestete Software an mir selbst auszuprobieren – dieses Rezept hatte noch niemand ausprobiert! Und es fühlte sich tatsächlich mehr nach einer technologischen Lösung an, mit allen Risiken, als nach Essen.

Das Gefühl gab sich aber bereits nach dem ersten Löffel – und ich fühlte mich bald satt stattdessen. Und das hat sich bis heute nicht geändert.

Soylent – Essbarer Neoliberalismus für die Cyberpunk-Dystopie?

Natürlich ist es bedenklich, wenn man sich so sehr auf die reine Funktion des Essens konzentriert, statt auf die anderen Qualitäten. Vielleicht sollte man Essen als Zweck, und nicht nur als Mittel betrachten. Vielleicht ist Soylent aber auch die dialektische Konsequenz der Ernährung – in _essen, einem das_synthikat-Track, habe ich mich damit auseinandergesetzt.

Man isoliert ein Problem und löst es mit einer technischen Insellösung – das ist die Containierisierung des Essens. Man entfremdet sich so von den Umweltkreisläufen, in die man eingebunden ist; das ist nur das komische Außen, mit dem ich mich auseinandersetzen muss, um am Leben zu bleiben, und ich reduziere diese Interaktion mit Soylent auf das notwendige.

Aber sollen wir uns nur von den Maschinen beherrschen lassen, oder können wir nicht selbst Teil dieser Maschine werden? Ist es die Automatisierung, die uns entmenschlicht, oder sind es die, die von der Automatisierung profitieren? Wollen wir die Technologisierung von allem ablehnen und uns nach der guten alten Zeit sehnen, oder wollen wir mit den anderen Robotern in Symbiose leben?

Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, auch in meinen Texten nicht. Soylent ist für mich ein Teil der Auseinandersetzung mit der alltäglichen Dystopie. Und wenn ich Lust habe, dann koche ich mir richtig gut mit Pilzen und Sauce, und Tomaten…


Update: nach acht Monaten, in denen ich mich fast ausschließlich von Soylent ernährt habe, bekam ich leider einen Eisenmangel. No big deal, nach ein paar Wochen Tabletten war alles wieder gut – ich esse aber seitdem deutlich weniger Soylent, eher mal als Ausnahme, wenn ich wirklich keine Lust zu kochen habe.

Jeder Körper verarbeitet Nahrung unterschiedlich – mein Körper ist anscheinend schlecht darin, Eisen aus Haferflocken aufzunehmen. Meine anderen Blutwerte waren in Ordnung, aber in der Hinsicht müsste ich mein Rezept anpassen, wenn ich wieder dauerhaft davon leben will.

Ich empfehle Soylent weiterhin für alle, die sich mit dem Konzept anfreunden können. Einige Freund*innen von mir experimentieren mit einem weniger süßen Rezept herum. Ich würde allerdings empfehlen, regelmäßig ein umfassendes Blutbild zu machen, wenn ihr länger überwiegend von Soylent leben wollt.

Author: Nami

Nami is a Cyberpunk, sysadmin, musician, und writes a lot. As an activist they fight for open access to art, continents, and trains for everyone. But in secret they just want to be a reeaal hacker.

2 thoughts on “Soylent – Essen für die alltägliche Dystopie”

    1. Viel früher, 2015 glaube ich. Zuletzt habe ich tatsächlich länger kein Soylent mehr gegessen – spiele aber momentan immer öfter wieder mit dem Gedanken.

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